Sie sind seit Juli 2023 Chief Strategy Officer für Roof Solutions and Applications bei wienerberger. Was umfasst Ihr Aufgabenbereich?

Christian Reingruber: Meine Aufgabe ist die Weiterentwicklung der wienerberger Strategie im Bereich Dachlösungen und -anwendungen. Gemeinsam mit meinem Team beschäftige ich mich damit, wie wir die Kundenbedürfnisse noch besser erfüllen und so die Kundenzufriedenheit weiter steigern können. Außerdem identifizieren wir Wachstumschancen – etwa beim Dachzubehör, bei Photovoltaiklösungen oder bei zukunftsweisenden Materialien für Flachdachfolien.

Wir arbeiten auch abteilungsübergreifend an Innovationen, beobachten Marktrends und unterstützen wienerberger bei der Integration von zugekauften Unternehmen. Im Dezember 2022 gab wienerberger beispielsweise bekannt, signifikante Teile der Terreal Gruppe, einem erfolgreichen europäischen Anbieter von innovativen Dach- und Solarlösungen, übernehmen zu wollen. Hier warten wir noch auf die Freigabe durch die Wettbewerbsbehörden und auf das Closing. Nach dem Abschluss wäre das die größte Akquisition in der über 200-jährigen Geschichte von wienerberger. Das ist ein bedeutender Schritt für unser Unternehmen und ein wichtiger strategischer Meilenstein beim Ausbau unserer klaren Nummer 1-Position im europäischen Steildachmarkt.

Stichwort Kundenbedürfnisse: Was erwarten sich Kundinnen und Kunden bei der Neuerrichtung oder Renovierung von Dächern und wie werden Sie dem gerecht?

Reingruber: An erster Stelle steht die einfache Anwendung. Wir wollen es unseren Zielgruppen – von Dachdeckern, Baustoffhändlern und Architekten bis zu Endkundinnen und Endkunden – möglichst leicht machen, die passende Lösung zu finden und zu installieren. In den vergangenen Jahren haben wir daher unser Sortiment systematisch ergänzt. Heute bieten wir länderspezifische Komplettlösungen an: angefangen beim Dachziegel und dem keramischen Zubehör über ein Vollsortiment an technischem Zubehör wie Dachfenstern, Unterspannbahnen oder Sturmklammern bis hin zu den neuesten Photovoltaiksystemen. Dazu kommen hilfreiche Services wie Berechnungsprogramme oder Visualisierungstools. 

Welche aktuellen Entwicklungen und Trends erkennen Sie im Dachbereich?

Reingruber: Eine Entwicklung ist sicher, dass in den letzten Jahren das Steildach wieder an Popularität gewonnen hat. Zusätzlich zur Schutzfunktion tritt auch der Nutzen von Dächern zunehmend in den Vordergrund – beispielsweise wollen immer mehr Kundinnen und Kunden Sonnenstrom auf ihrem Hausdach produzieren. Genauso wesentlich wird der Umgang mit der Ressource Wasser: das Sammeln, Speichern und Verwerten von Regenwasser. Durch die Verbindung von Dach- und Speicherlösungen kann wienerberger hier sehr gute Gesamtsysteme anbieten.

Ein Fokus von wienerberger sind innovative, ökologische Lösungen für die gesamte Gebäudehülle. Wie trägt der besonders langlebige Tondachziegel dazu bei?

Reingruber: Unser Anspruch ist, hochwertige, innovative und nachhaltige Dachsysteme bereitzustellen. Dabei steht der Tondachziegel im Zentrum – ein besonders langlebiges Produkt, das schon tausende Jahre existiert und das wir laufend weiterentwickeln. Über den gesamten Lebenszyklus ist dieses natürliche Material im Ressourceneinsatz deutlich nachhaltiger als andere. Denn durch das Brennen bei hohen Temperaturen kann dieses Naturprodukt eine Lebensdauer von über 100 Jahren erreichen. In diesem Zusammenhang ganz interessant: Bei Untersuchungen der Dachziegel der Dominikanerkirche in Krems in Niederösterreich hat man festgestellt, dass diese um 1330 produziert wurden – also bereits fast 700 Jahre das Kirchendach schützen! 

Welche Herausforderungen gilt es gerade bei ökologischen Lösungen zu meistern?

Reingruber: Herausfordernd sind sicher die laufenden Änderungen der rechtlichen Anforderungen in puncto ESG, sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene. Deren Umsetzung in der Praxis ist nicht immer einfach. Ein Beispiel: Die EU-Kommission will Hausbesitzerinnen und -besitzer mit der Neufassung der Gebäuderichtlinie zu gewissen Sanierungen verpflichten. Wohnimmobilien müssten dann bis 2033 mindestens die Energieeffizienzklasse D erreichen. Das erfordert Investitionen, die nicht immer wirtschaftlich sind. Deswegen braucht es ja auch Förderungen, etwa um die Energieeffizienz von Gebäuden zu erhöhen.

Neubauten werden bereits energieeffizient geplant. Durch neue Vorgaben und Förderungen sowie höhere Energiepreise steigt das Interesse daran, auch bei der Renovierung und Sanierung von Dächern. Welche Potenziale sehen Sie hier?

Reingruber: Rund 40 Prozent des EU-Energieverbrauchs fallen auf Gebäude. Deswegen sehen wir enormes Potenzial für die Renovierung und Sanierung von Immobilien. Dieses Segment ist also der Wachstumsmarkt Nummer eins für wienerberger. Mit unseren Angeboten sind wir Teil der Lösung und treiben nachhaltiges Wohnen voran.

Der überwiegende Anteil des Umsatzes von wienerberger im Dachbereich entfällt seit jeher auf die Renovierung. Das wird auch in Zukunft eine zentrale Rolle spielen. Ganz oben auf der Agenda steht vielfach die thermische Sanierung, da üblicherweise rund 20 Prozent der Wärmeverluste am ungedämmten Dach entstehen. Deshalb ist die Investition in Wärmedämmung in Kombination mit Dachziegel sehr sinnvoll. Miteinander kombiniert kann so der Energieverbrauch eines Gebäudes entscheidend reduziert werden – sowohl beim Heizen im Winter als auch bei der Kühlung im Sommer. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, mit Photovoltaiklösungen am Dach Energie für den eigenen Bedarf oder die Einspeisung in das Stromnetz zu erzeugen. 

Von Stürmen über Starkregen bis zu Hitzeperioden: Dächer sollen heute auch zur Anpassung an den Klimawandel und zum Schutz vor Extremwetter beitragen. Wie begegnen Sie diesen Herausforderungen?

Reingruber: Die Schutzfunktion von Dächern spielt eine zentrale Rolle – auch im Hinblick auf die mit dem Klimawandel einhergehenden Wetterextreme. So ist zum Beispiel der Hagelwiderstand bei Tondachziegeln oder auch Betondachsteinen deutlich höher als bei anderen Eindeckmaterialien. Und um den Stürmen entgegenzutreten, haben wir für jedes einzelne Dachziegelmodell die spezifisch dazu passende Sturmklammer entwickelt.

wienerberger arbeitet laufend an der Produktentwicklung, um den Schutz und den Nutzen von Dächern weiter zu verbessern – etwa auch für klimaresilientere Gebäude. Wir bieten beispielsweise eine weiße Flachdachmembran aus Recyclingkunststoff an, die zu 100 Prozent recyclingfähig ist. So wie helle Dachziegel ist sie auf Solarreflexion optimiert und heizt sich in Hitzeperioden weniger auf, womit auch die Umgebungstemperatur deutlich kühler bleibt. Sie eignet sich hervorragend als Basis für begrünte Dächer, die eine zusätzliche Dämmschicht bei Hitze und Kälte bieten.

Welche Rolle können Dächer für Wasserschutz und Biodiversität übernehmen?

Reingruber: Mit dem Klimawandel wird das Wasser weltweit immer knapper und auch die Biodiversität sinkt. Begrünte Flachdächer oder Nistdachziegel für Vögel und Fledermäuse auf Steildächern schaffen zusätzlichen Lebensraum. Hier arbeiten wir auch innerhalb der wienerberger Gruppe eng zusammen. Regenwasser kann beispielsweise mit dem Regenwassermanagementsystem von Pipelife über das Dach gesammelt und für das Gebäude genutzt werden. Insgesamt machen Dächer große Flächen aus und können in vielen Bereichen einen wesentlichen Beitrag leisten – von Regenwassermanagement und der Förderung von Biodiversität über Energiegewinnung bis zum Schutz vor Hitze und Kälte. 

Bis 2030 soll der Anteil erneuerbarer Energien in der EU auf mindestens 32 Prozent steigen. Dabei spielt der Ausbau von Sonnenenergie eine große Rolle. Welche Photovoltaiklösungen bietet wienerberger auf Dächern an?

Reingruber: Wir bieten eine sogenannte Indach-Photovoltaiklösung unter der Marke Wevolt an. Das sind Solarpaneele, die in das Dach integriert werden und mit dem Dachziegel eine harmonische Einheit bilden. Bei Aufdach-Photovoltaiklösungen haben wir in Österreich spezielle Befestigungssysteme im Sortiment, die eine optimale Dichtheit am Dach gewähren. Als Premium-Option gibt es unsere Solardachziegel. Wie der Name schon sagt, sind hier Photovoltaikzellen im Dachziegel integriert. So bleibt der ästhetische Look von Keramikziegeln erhalten. Diese Lösungen bieten vor allem bei komplexen Dachformen eine bessere Ausnützung der Fläche und somit mehr Kapazität. 

Im Zeichen der Kreislaufwirtschaft setzt wienerberger auf recycelte, recycelbare oder wiederverwendbare Lösungen. Welche Ziele verfolgen Sie aktuell im Dachbereich?

Reingruber: Dachziegel sind äußerst langlebige Produkte. Speziell in Westeuropa sind gebrauchte Ziegel in der Dachsanierung sehr gefragt, da sie sich harmonisch in die Dachlandschaft einfügen. Gleichzeitig achten wir schon bei der Entwicklung darauf, dass alle unsere Produkte zu 100 Prozent recyclingfähig sind. Ton ist ein natürlicher Stoff. Ausgediente Keramikziegel oder Ausschuss aus der Herstellung können unterschiedlich als Recyclingmaterial eingesetzt werden: beispielsweise als Substrat für die Dachbegrünung, gemahlen als Sand auf dem Tennisplatz oder in unserer Produktion als Ersatz für Zuschlagstoffe wie Ton oder Zement. Wir arbeiten daran, den Recyclinganteil in der Herstellung Schritt für Schritt weiter zu erhöhen. 

Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft: Welche Rolle sollen Dächer künftig für unser Leben spielen? 

Reingruber: Das Motto „Vom Schutzdach zum Nutzdach“ beschreibt es für mich am besten. Beide Funktionen sind wichtig. In der Vergangenheit war ganz klar der Schutz im Fokus. Künftig werden wir aber auch den Nutzen des Dachs noch weiter steigern. Denn nutzbare Flächen sind begrenzt und werden nicht nur im urbanen Raum immer wertvoller. Daher müssen wir auch die Dächer so gut wie möglich nutzen – etwa mit Photovoltaik, Begrünung und dem Sammeln und Speichern von Wasser.